Die Aufgabe, für eine der berühmtesten Luxusmarken der Welt die neue Mode der kommenden Saison einem globalen Publikum schmackhaft zu machen, ist mitnichten kein leichtes Unterfangen. Das Klientel der 185-jährigen Maison umfasst längst nicht nur die Besucher der altehrwürdigen Boutique an der Rue du Faubourg Saint-Honoré in Paris, sondern auch jene der Megastores weltweit.
Statt wie einst stur einen bestimmten Stil, eine Silhouette oder Farbe als Diktat vorzusetzen, packen Modedesignerinnen von heute vielmehr gleich mehrere Themen in eine Kollektion rein, zeigen sexy Minikleidchen neben züchtigen Kutten und schnüren dies idealerweise mit einem Überthema zusammen.
Im Falle von Vanhée-Cybulski, seit 2014 Kreativchefin der Hermès-Damenkollektionen, sind es häufig jedoch keine greifbaren Leitthemen, sondern vielmehr ein Flair, das sich aus einer Ansammlung von Szenerien zusammensetzt. Dieses lässt sich nicht immer einfach benennen; im Falle der neuen Kollektion für Herbst/Winter 2022/23 ist es am ehesten als ein Gefühl von Freigeist zu beschreiben.
Das mag am grünblau gefärbten Sand liegen, auf den die Besucher an de Defilee-Location in Paris am Samstagnachmittag traten. Oder an den luftig wehenden Frisée-Mähnen mancher Models, die in flachen Velourstiefeln über den Runway liefen. Oder aber auch an den gegensätzlichen Elementen, die Vanhée-Cybulski in ihre Kleiderentwürfe packte.
Strenge Gouvernanten-Silhouetten wechselten sich ab mit mädchenhaften Mikrokleidern mit oberschenkelhohen Rippstrümpfen, die an Turnerinnen-Outfits erinnern. Mal tauchten leicht wallende Chiffonkleider mit verspielten Rüschenelementen auf, mal gab es Mäntel aus herbem Loden mit linear platzierten Lederdetails.
Wie immer war jedes Detail in Nadèges Entwürfen sichtlich wohlüberlegt und präzise platziert – dem formalen Ethos der funktionalen Reitgeschirre entsprechend, mit denen sich Thierry Hermès anno 1837 selbständig machte. Dass sich die Frauen in diesen Outfits dennoch agil bewegen, lag an raffinierten Details: Leder wird etwa mit transparenten Streifen aus Seidenstrick ergänzt. Eine neue Version der Kelly-Bag ohne kurze Henkel wurde – einer Bodybag ähnlich – nah am Torso umgehängt.
Die klassische Farbpalette mit Crèmeweiss, Beige und Brauntönen belebten Nuancen von Salbeigrün und einem klassischen Carré-Print. Ein reversibler Schaffellmantel schimmerte in einem Flechten-Blau. Wahrhaftig erquickend: Kleine, bimmelnde Schellen kontrastierten mit strengen Zierelementen aus kühl schimmerndem Metall, die sich an das ikonische Collier de Chien angelehnten.
So unterschiedlich die verschiedenen Looks in Vanhée-Cybulskis nebeneinander auch wirkten, verbindendes Element war die handwerklich hochwertige Machart.
Der Spagat, den traditionsreichen, disziplinierten Reitersport – Grundcode von Hermès – mit einem leichtfüssigen, zukunftsgerichteten Esprit zu vereinen, ist der Hermès-Chefdesignerin gut gelungen. Die sonst eher scheu und unscheinbar wirkende 43-Jährige zeigte sich zum Abschluss des Defilees für einmal sichtlich freudig und nahm den abschliessenden Publikumsapplaus mit Strahlen entgegen.
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