Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Egal, wie man »Wildberry Lillet« findet, den ersten großen Hit von Nina Chuba: Man muss der 24-jährigen Sängerin schon deshalb dankbar für diesen Song sein, weil er im August 2022 die quälenden, fremdschamigen neun Wochen beendete, in denen »Layla« den ersten Platz der deutschen Charts belegte. Vier Wochen lang verteidigte Chuba den Hitparaden-Thron mit einer lässigeren, eleganteren und vor allem weiblich selbstbestimmten Version deutscher Popmusik. Ist übrigens immer noch in den Charts, die Single.
»Ich will haben, haben, haben«, rappt Chuba darin und zählt auf, welche Besitztümer und Annehmlichkeiten sie sich für ein gutes Leben ausmalt: Ein Haus für Mama an der Küste von Catania, Immos, Dollars, fliegen wie bei Marvel, alles vom Buffet. Und viel Wildberry Lillet natürlich, jenes bei Jugendlichen beliebte Trendgetränk aus Lillet Blanc mit Walbeeren-Limo. So süß wie dieser Drink war auch Chubas unbeschwerter Sommerhit. Der richtige Sound zur rechten Zeit. Mit den Tantiemen der Streams und Single-Verkäufe kann sich die junge Musikerin schon mal viele materielle Wünsche erfüllen. Das »kann sie sich leisten«, um aus »Glatteis« zu zitieren, einem draufgängerischen Song ihres jetzt veröffentlichten Debüt-Albums »Glas«: »Mit 200 km/h, Glatteis, Autobahn/ Ist mir alles scheißegal«, heißt es darin.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Es geht in »Glatteis« zwar darum, um jeden Preis zu einem Lover zu gelangen, aber aufs Glatteis begibt sich natürlich auch jede Künstlerin und jeder Künstler, die einen massiven Pop-Hit gelandet haben: Die Erfolgsroute scheint glänzend und glitzern, eine vollkommen freie Bahn. Aber wehe, man bleibt zu lange stehen und bricht krachend ein.
Enny: No More Naija Men
Gorillaz: New Gold (feat. Bootie Brown & Tame Impala)
Hannah Jadagu: What You Did
Shame: Adderall feat. Phoebe Bridgers
The National: New Order T-Shirt
Rahill: I Smile For E Bonus-Track:
Elke Brauweiler: Universal Tellerwäscher
Zum Glück verknüpft Nina Chuba auf ihrem Album ihre nassforsche Attitüde mit viel Reimgewandtheit, Wortgefühl und dem Talent, auch tiefgängigere Themen und diversere Sounds souverän zu beherrschen. »Wildberry Lillet« wirkt wie der leichte, verlockende Aperitif, bevor die stärkeren Drinks eingeschenkt werden. Das melancholische »Alles gleich« zum Beispiel, in dem Chuba zugibt, nie gedacht zu haben, »dass das klappt mit Musik«. Eigentlich sollte sie nun glücklicher sein als vor dem Hype, singt sie, aber »am Ende bleibt das alles gleich«. Das Mädchen aus der Kleinstadt sucht nach Glück und findet keins – an diese trüben Zeiten will sich der Popstar Chuba immer erinnern, um nicht übermütig zu werden.
Nina Katrin Kaiser kommt aus dem Hamburger Speckgürtel-Städtchen Wedel, inzwischen wohnt sie aber in Berlin. Wie Hartmann und Bothmer lernte auch Chuba den Entertainment-Betrieb zunächst als Schauspielerin kennen. Mit sieben Jahren spielte sie eine Hauptrolle in der Kinderserie »Die Pfefferkörner«, es folgten Auftritte in TV-Filmen und -Serien. Seit 2018 wurde aber die Musik bedeutender. Ein Großteil der Tracks auf »Glas« wurden bereits als Singles veröffentlicht.
Ihre Art zu rappen und ihre angekratzt und rau wirkende Stimmlage erinnern manchmal an die ebenfalls aus Hamburg kommende Rapperin Haiyti, die 2018 mit ihrem Album »Montenegro Zero« viel Pionierarbeit für Nachwachsende wie Chuba, Marie Bothmer oder Paula Hartmann geleistet hat – ohne dafür mit höheren Chartsnotierungen belohnt zu werden. Was fehlte, war wahrscheinlich der Pop-Appeal, der für diese Erzählungen selbstbewusster, aber melancholisch gebrochener Frauenfiguren vor fünf Jahren noch nicht vorhanden war – und sich dank Haiyti und Sängerinnen wie Elif inzwischen etabliert hat.
Chubas hervorragend produzierte Popmusik vereint den urbanen Sehnsuchtssound von Vorbildern wie Trettmann, zu dem Song-Protagonistinnen wehmütig durch pulsierende Gefühlswogen gleiten (»Mondlicht«) mit domestizierten, von Seeed entliehenen Dancehall-Beats und -Rhythmen (»Mangos mit Chili«, »Feminello«). Auch den populären Karibik-Groove beherrscht Chuba in Tracks wie »Solo« oder »Freitag«. Manches, darunter der Reggae »Ich glaube ich will heut nicht mehr gehen« (mit Provinz), ist etwas zu harmlos und gefällig, und auch beim Balladenschreiben geht noch mehr Splittrigkeit (»Glas«). Der gegen schmierige Aufreißertypen gerichtete, irritierend Kraftklub-artige Battletrack »Ich hass dich« (mit Chapo102) wirkt disparat und sprengt das ansonsten stilsicher gestaltete Skill-Schaufenster, das so ein Debüt-Album ja immer ist.
Am meisten Potenzial, auch mal die Komfortzone zu verlassen, zeigen das gespenstische »Tinnitus«, textlich wiederum auf demselben mentalen Edge wandernd, den sonst nur Haiyti beschreitet. Am besten aber ist Nina Chuba, wenn sie den Lillet stehen lässt und sich im unverschämt coolen »Tracksuit Velours« mit ihren Mitternachtsfreundinnen zu »Girl blunts im Flur« trifft und den »Mittelfinger in die Kamera« hält: »Mit den besten auf Tour/ Bisschen neben der Spur/ Ist okay, wir sind gut drauf«, das ist der Spirit, mit dem sich gut über jedes Karriere-Glatteis gleiten lässt. (7.5)
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn spätere Generationen fragen sollten, wie denn britische Popmusik zu Beginn des 21. Jahrhunderts klang, wird ihnen der dann aktuelle Chatbot wahrscheinlich – hoffentlich – den Namen Damon Albarn (einflussreichste Person) und die Band Gorillaz ausgeben. Was vor 22 Jahren mit einem schrägen Novelty-Hit (»Clint Eastwood«), Cartoon-Avataren und einem wilden Stilmix noch wie ein kurzlebiges und interdisziplinäres Pop-Experiment wirkte, hat Stars wie Billie Eilish und den musikalischen Horizont einer ganzen Publikums-Generation erweitert. »Cracker Island«, das inzwischen achte Album der Gorillaz um Damon Albarn und Jamie Hewlett, ist das beste seit längerer Zeit: Albarn, der gut vernetzte Barde des Britpop, hat erneut illustre Gäste versammelt: Stevie Nicks, Tame Impala, Thundercat und Bad Bunny. Wirkte die stets bestens kuratierte Gästeliste früher manchmal ein wenig belastend für den inneren Zusammenhalt von Alben, ist hier alles im Flow, auch wenn das Konzept (eine Art technikskeptischer Kult) diesmal nicht so zwingend ist wie einst bei »Plastic Beach«, sondern sogar ein wenig rückwärtsgewandt wirkt. Groovemonster und funkelnde Pop-Hits wie den Titeltrack oder »New Gold« hatten die Gorillaz jedoch schon lange (seit »Stylo«? Seit »Feel Good Inc.«?) nicht mehr. Albarn fügt in »The Tired Influencer« die Singer/Songwriter-Sensibilitäten seines Solo-Albums »Everyday Robots« ein und singt zusammen mit Beck eine verblüffend altmodische, aber bezaubernde Ballade (»Possession Island«). Einen inzwischen leichten, vielleicht altersbedingten Hang zum Schlagerhaften (und das scheußliche Coldplay-Punk-Hybrid »Skinny Ape«) verzeiht man diesen modernen Klassikern im Moment noch gerne. (8.0)
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Algiers sind so etwas wie wütenden, nervösen Gorillaz der US-Südstaaten: Musikalisch idiosynkratisch, lyrisch hochpolitisch aufgeladen hat die Band aus Atlanta seit 2015 ein neues Genre des Industrial-Goth-Gospels mit viel New-Wave- und Hip-Hop-Einflüssen erfunden. Shows, in denen Sänger Franklin James Fisher als Blues-Schamane und Agit-Prediger gegen Rassismus und Unterdrückung agiert, sind fiebrige, ekstatische Messen. Genau dieser treibende, rastlos-rabenschwarze Groove droht auf dem vierten Algiers-Album jedoch verloren zu gehen. Die Band will augenscheinlich zu viel: zu viele »Messages«, zu viele Stile und Stilwechsel innerhalb einzelner Tracks, die dadurch zu oft unnötig sperrigen, mit Meta-Ebenen überladenen Komplexen werden (»Green Iris«, »Bite Back«). Zu viel für den schon von jeher komplexen Algiers-Sound sind auch die erstmals zahlreich vertretenen Gäste: »Everybody Shatter« (mit Rapper Big Rube und Pop-Group-Chef Mark Stewart) funktioniert noch gut als Grandmaster-Flash-Update mit Northern-Soul-Vibe. Aber schon »Irreversible Damage« (mit Zach de la Rocha von Rage Against The Machine) vergniedelt und verkeift sich bis zur Karikatur eines Protestsongs. Spoken-Word-Interludien und Jazz-sinnige Breakdowns bremsen die Dringlichkeit der zornigen Botschaften Fishers immer wieder aus. Dabei zeigen gerade schlichter gestrickte Songs wie »73%« oder »A Good Man«, welchen einzigartigen Druck diese Band erzeugen kann und damit tatsächlich und notwendigerweise aufrüttelt, wie es der Albumtitel verheißt. Wenn sie sich nicht im eigenen Anspruch verdaddelt. (7.3)
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Auch das Debüt-Album von Margaret Sohn alias Miss Grit folgt einem Konzept: Als non-binäre und asiatisch gelesene US-Amerikanerin fühlt sich die in New York lebende Sohn in der Gesellschaft so entfremdet wie der titelgebende Cyborg. Die Inspiration für diese nach ihrer Identität forschenden Figur entnahm sie angeblich dem Science-Fiction-Film »Ex Machina« von Alex Garland. Ungleich irdischer, wenn nicht in traditionellen Indierock- und Pop-Strukturen verhaftet gibt sie sich in hymnischen Songs wie dem Titelstück oder »Nothing’s Wrong«, einem Emo-Update des Pixies-Klassikers »Where is My Mind« für die »Euphoria«-Generation. Brüchigere, schwebendere Ambient-Elektro-Etüden wie »Buffering«, »사이보그를 따라와« oder das mit schwerer Gitarre schön in sich verspulte »Like You« rechtfertigen den kleinen Hype, den Miss Grit in den letzten Jahren bereits mit ihren ersten EPs erzeugen konnte. Folgt man Sohns traurigen Cyborg in seine Schaltkreis-Odyssee nach Wärme, Harmonie und Soul, offenbart sich, warum dieser Neuzugang auf dem britischen Mute-Label seinen Platz zwischen Depeche Mode und Goldfrapp durchaus verdient hat. (7.0)
Vor zwei Jahren wurde die sehr sympathische Südlondoner Band Shame an dieser Stelle als »Pubrock-Variante« von verwandten Acts wie Idles bezeichnet. Nun geht man nicht davon aus, dass es britische Bands schert, was deutsche Kritiker so über sie zusammenschreiben, andererseits wird im Presseinfo zu Shames drittem Album »Food For Worms« behauptet, als Inspiration dienten der Band beim Schreiben der neuen Songs unter anderem Lou Reed (hört man, u.a. in »Yankees«) und die Hamburger Diskursrockband Blumfeld (hört man jetzt nicht so raus). Wie dem auch sei: Wie es sich für doch eher schwitzigere Vertreter des neuen britischen Postpunk-Genres geziemt (Sänger Charlie Steen macht auf der Bühne gerne den Oberkörper frei) nahmen das Album komplett live auf, damit es nicht allzu chaotisch klingt, legte dann Produzent Flood (U2 und so) nochmal ein paar ordnende Hände an.
Das Ergebnis ist zwiespältig: Wenn Shame für ihre Auslotungen fragiler männlicher Gemütszustände den richtigen Groove (und ein Wah-Wah-Pedal) zu fassen kriegen (»Six-Pack«), sind sie eine Urgewalt. Wenn sie Top-Songwriterin Phoebe Bridgers zu Gast haben wie im Album-Höhepunkt »Adderall«, bringen sie eine bezwingende Modern-Lovers-Vulnerabilität zustande. Wenn sie aber, wie in »Fingers of Steel« oder »The Fall of Paul« lediglich beherzt ein paar jahrzehntealte Rock- und Punk-Motive abgrabbeln, dann sind sie im Pub dauerhaft besser aufgehoben als auf der großen Bühne. (6.5)
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit