Nicht einmal Wladimir Putin kann die Entwicklung im Ukraine-Krieg in Russland noch als Erfolg verkaufen. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin scheint deshalb zunehmend in die Offensive zu gehen.
München - Auch wenn von Anfang nicht alles nach Plan lief im Ukraine-Krieg, hatte Kreml-Chef Wladimir Putin doch die Gewissheit: Die Mächtigen in Russland zogen an einem Strang. Denn sie alle eint das gemeinsame Ziel, die Ukraine samt ihrer westlich orientierten Regierung um Präsident Wolodymyr Selenskyj als erklärten Feind zu besiegen. Und das Land wahlweise einzuverleiben oder zumindest auf die Linie des Kreml zu manövrieren.
Folglich konnte sich Putin voll auf die befohlene Invasion - seine offizielle und mittlerweile völlig aus dem Ruder gelaufene Spezialoperation - konzentrieren. Diese Zeiten scheinen nun vorbei zu sein. Denn auch im Machtzirkel des 70-Jährigen rumort es immer offener. Ramsan Kadyrow, Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien und als „Bluthund“ gebrandmarkt, und Jewgeni Prigoschin, Gründer und Finanzier der gefürchteten Söldner-Gruppe Wagner sowie als „Putins Koch“ bekannt, forderten bereits ein noch kompromissloseres Vorgehen in dem Konflikt. Offenbar bis hin zur Eskalation.
Die russischen Truppen scheiterten erst an der Einnahme Kiews und werden jetzt auch aus den eroberten Gebieten im Süden und Osten zurückgedrängt. Angesichts des militärischen Desasters in der Ukraine gilt der Zorn der aufständischen Putin-Untergebenen in erster Linie Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Auf den zielen womöglich auch Videos ab, die im Internet kursieren und Männer in Militär-Uniform zeigen. In den Clips klagen die mutmaßlichen Soldaten ihr Leid.
Laut Übersetzung durch Anton Geraschenko, Berater des ukrainischen Innenministeriums, beschweren sich die Männer über ihren Einsatz an der Front ohne wirkliche Ausbildung. Zudem hätten sie veraltete und lediglich nicht registrierte Waffen ausgehändigt bekommen, müssten sich selbst um die Verpflegung kümmern und hätten nicht einmal Zelte zum Übernachten. Ein junger Mann, der sich selbst als Kovrischin Artem Aleksewitsch vorstellt, will demnach sechs Tage in Schützengräben verbracht und gemeinsam mit 400 anderen beschlossen haben: „Wir werden nirgendwo hingehen, lasst sie zur Hölle fahren.“
In einem anderen Video filmt der Sprecher eine große Gruppe Uniformierte neben einem Zug und betont, sie würden nicht versorgt werden, hätten kein Geld zur Verfügung und würden leben „wie Tiere“. Weiter schimpft er laut der Übersetzung von Geraschenko: „Niemand braucht uns. Es gibt keine Kampfübungen.“ Auch die Umstehenden, viele verstecken ihre Gesichter hinter Masken oder Tüchern, beschweren sich lautstark.
Ein drittes Video zeigt offenbar die gleiche Szene aus anderer Perspektive. Diesmal ist auch der Sprecher zu sehen, der mit seinem Handy filmt. Auch er trägt militärische Kleidung, die Kapuze auf dem Kopf, das Gesicht unverhüllt. In dieser Sequenz heißt es unter anderem, die Männer müssten im Freien leben, auch im Regen. 90 Prozent von ihnen seien krank. Dann sagt jemand: „Zeigt eure Waffen.“ Nur einige der Männer heben ihre Gewehre in die Höhe. Ob die übrigen unbewaffnet sind, ist nicht wirklich zu erkennen.
Die Waffen seien aus den 70ern und 80ern, kritisiert der Mann mit dem Handy und filmt dann ein ihm entgegengerecktes Fieberthermometer, während jemand ruft: „Alle leiden an Lungenentzündung.“ Dann kommt der Vorwurf: „Die meisten von uns haben weder Helme noch kugelsichere Westen“. Am Ende wird erkennbar, dass auch dieser Clip von dem jungen Mann gefilmt wurde, der sich als Aleksewitsch vorgestellt hat. Er zieht kurz die Sturmhaube herunter, um sein Gesicht zu zeigen.
Wie ntv schreibt, kursieren die Videos laut dem gemeinsamen Verifizierungsteam von RTL und ntv seit Mittwochabend. Zunächst seien sie vermutlich auf dem russischen Imageboard Dvach veröffentlicht, anschließend auch über Telegram verbreitet worden. Der angegebene Ort Belgorod nördlich von Charkiw auf der russischen Seite der Grenze sei korrekt.
Was jedoch neben den heftigen Vorwürfen für Diskussionen sorgt, ist die augenscheinlich bessere Ausrüstung einiger der Männer. So tragen wenige eben doch Schutzwesten, bei einzelnen Personen ist an der Kleidung das Totenkopf-Symbol der Wagner-Gruppe erkennbar. Gerade angesichts Prigoschins forscherem Auftreten in den vergangenen Wochen liegt die Vermutung nahe, seine Söldner würden die übrigen Soldaten aufstacheln und die vermeintliche Militär-Revolte in Gang setzen.
Mark Krutov, Journalist von Radio Free Europe/Radio Liberty, will in den Clips „acht bis zehn Leute, die ihre Gesichter verstecken und besser ausgerüstet sind als die anderen,“ erkannt haben. Ein weiteres Indiz, dass es sich um Werke des Prigoschin-Lagers handeln könnte: Die Videos seien von Telegram-Kanälen verbreitet worden, die der Wagner-Gruppe nahestehen.
Außerdem vergleicht er den Kapuzenmann mit dem Handy mit einem Mann aus einem Video von Ende September. Es scheint derselbe zu sein. In diesem älteren Clip sagt er laut Krutovs Übersetzung: „Uns wurde offiziell mitgeteilt, dass es keine Übungen geben wird, ehe wir ins Kriegsgebiet geschickt werden. Das haben die Kommandeure bestätigt. Am 29. September werden wir nach Cherson entsandt. Denkt darüber, was ihr wollt. Entscheidet selbst, wie ihr damit in Zukunft umgeht. Es gab keine Schießübungen, kein theoretisches Training, nichts.“
Krutov recherchierte weiter über den Mann, der Sergej Surkow heißen soll. Eines der vom Journalisten geposteten Bilder zeigt ihn mit einem Cap, an dessen Schirmunterseite die US-Flagge prangt. Seine Schlussfolgerung: Surkow sei nicht wirklich patriotisch oder anti-westlich eingestellt. Auf eine Nachfrage seinerseits zur geäußerten Kritik im September habe er als Antwort bekommen: „Ich kann jetzt nicht darüber reden. Die Dinge haben sich komplett geändert, hoffentlich zum Besseren.“ Allerdings: Krutov ist nach seinen Recherchen der Meinung, dass es sich bei Surkow wirklich um einen Soldaten handelt.
Zweifel hegt er allerdings an der Authentizität der Videos, diese würden „ein bisschen nach einer gestellten Geschichte“ aussehen. Nutzen würde sie womöglich den Hardlinern, denen anscheinend jedes Mittel recht ist, um den Krieg zu gewinnen. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) schreibt in diesem Zusammenhang über Kadyrow und Prigoschin: „Beide verfügen über ihnen loyal ergebene, dem Gewaltmonopol des Staates weitgehend entzogene paramilitärische Einheiten und über eine eigene mediale Präsenz - eine durchaus brisante Kombination.“
Auffällig ist jedoch, dass keiner von beiden Putin für die Rückschläge verantwortlich macht. Davor scheinen sie zurückzuschrecken, den Herrscher im Kreml stattdessen indirekt unter Druck setzen zu wollen, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Ob ihnen das gelingt? Die NZZ schreibt weiter, dass Kadyrow und Prigoschin „früher oder später in die Schranken gewiesen werden, wenn sie als Gefahr für das Regime gesehen werden“. Also als Gefahr für Putin selbst.
Dennoch wird bereits auf die Möglichkeit einer Meuterei verwiesen. Ob das auch der Kreml so sieht? Zumindest soll am 5. Oktober mit Alexej Slobodenjuk ein wichtiger Prigoschin-Unterstützer festgenommen worden sein, wie die Bild berichtete. Ihm werde Betrug vorgeworfen. Auf einem auf Twitter kursierenden Video ist zu sehen, wie ein Mann offenbar in einer Tiefgarage neben einem SUV am Boden fixiert wird. Drei Männer in Uniform und einer in Zivilkleidung halten ihn in Schach.
Slobodenjuk gilt als Kopf hinter mehreren Telegram-Kanälen. Die Verhaftung soll von der Schnellen Spezialeingreiftruppe, einem Spezialeinsatzkommando der russischen Nationalgarde, durchgeführt worden sein. Diese stehe besonders loyal zu Putin. Der damit womöglich eine Botschaft an Prigoschin senden ließ.
Zumindest als Reaktion auf die Festnahme interpretieren lässt sich eine Nachricht von dessen Wagner-Gruppe. Denn diese verkündete am 6. Oktober laut dem Thinktank Institute for the Study of War (ISW), dass sie nun über einen eigenen Telegram-Kanal verfüge. Der irreführende Name laut „Friedenswahrer“. Die erste Nachricht geht so: „Wir sind der Hölle entstiegen. Wir sind Wagner - unser Geschäft ist der Tod und unser Geschäft läuft gut.“
Es brodelt also in Russland. Noch habe Putin zumindest so weit die Fäden in der Hand, dass er bestimmt, wer offen kritisiert werden darf. Schoigu gilt somit laut ISW als „Sündenbock in der Warteschleife“, habe aber auf diese Weise noch seinen Nutzen für den Präsidenten. Außenminister Sergej Lawrow und Kreml-Sprecher Dmitri Peskow seien dagegen quasi geschützt. Attacken auf Putin verbieten sich nach wie vor.
Fragt sich nur, wie lange noch. Der einst unantastbare Präsident droht mehr und mehr zum Getriebenen zu werden - von seinen eigenen Unterstützern. (mg)