Die alten Wimmelwürmer sind tabu, auf dem „Muster der Vielfalt“ wimmeln Menschen. Die Designerin sagt, wer dort zu sehen ist und wie es zu den Farben kam.
Das alte Muster erinnerte an wimmelnde Würmer. Auf dem neuen Sitzbezugsmuster der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) wimmeln Menschen. Kleine, große, in verschiedenen Farben, Menschen mit Rollstuhl oder ohne. Einige haben sogar ihren Hund mitgebracht, eine Suchaufgabe für langweilige Bus- und Bahnfahrten. „Es ist ein Design, das eine Botschaft transportiert: Berlin ist Vielfalt, und wir befördern sie“, sagte Christine Wolburg, die bei der BVG den Bereich Vertrieb und Marketing leitet, am Dienstag. Der erste Bus mit dem „Muster der Vielfalt“ ist nun unterwegs, spätestens 2030 sollen die farbigen wimmelnden Silhouetten in allen BVG-Fahrzeugen auf den Sitzen prangen.
Dass es negative Reaktionen gibt, war abzusehen. „Würmchenmuster in hässlich“, lautete eine Reaktion bei Facebook. „Damit man den ganzen Rotz nicht sieht“, war eine Reaktion bei Twitter. „Ein neuer Fall für die #SMDT, die #SitzmusterdesTodes“, so der Fahrgastverband IGEB. „Mit etwas Fantasie entdeckt man mehrere Hunde und Katzen … aber auch Schweinkram“, hieß es in einem anderen Kommentar – ohne dass Einzelheiten genannt werden. Die neuen Sitzbezüge sind nicht nur schmutzabweisend und entsprechen den Brandschutzbestimmungen. Sie werden die Fahrgäste auch beschäftigen, erwartet Marketingchefin Wolburg. Kann das Design mit den rund 80 verschiedenen Figuren, laut BVG unter anderem mit einem homosexuellem Paar und einer Frau, die Yoga übt, demnach als raffinierte Anti-Vandalismus-Strategie gelten?
Auf jeden Fall ist es eine Reaktion auf einen Rechtsstreit, der das Landesunternehmen schon viel Zeit und Geld gekostet hat. Wie berichtet, geht es dabei um „Urban Jungle“, Großstadtdschungel – das chaotisch anmutende Durcheinander aus roten, blauen und schwarzen Flecken, das Sitzbezüge und Souvenirartikel der BVG jahrzehntelang prägte.
Der Designer Herbert Lindinger hatte das bewusst unruhige Muster, in dem Schmierereien optisch untergehen sollten, für die heutige S-Bahn-Baureihe 480 entworfen. Das war in den späten 1980er-Jahren, als die BVG für den S-Bahn-Betrieb in den Berliner West-Bezirken zuständig war. Später waren die Wimmelwürmer auch auf den Sitzbezügen anderer Fahrzeuge zu sehen, außerdem auf Krawatten, Turnschuhen, Unterhosen und anderen Merchandise-Artikeln, zuletzt auch auf dem „Berlkönig“.
Ein Vertrag habe ihr die weitere Verwendung erlaubt, argumentierte die BVG. Dumm nur, dass der Kontrakt verschollen ist. So trug Lindinger, mittlerweile 88 Jahre alt, in dem Urheberrechtsstreit vor dem Hamburger Landgericht einen Erfolg davon. Die BVG wurde verpflichtet, alle Artikel und Druckerzeugnisse im Großstadtschungel-Look zu vernichten.
In Bussen und Bahnen durfte es bleiben, für künftige neue Fahrzeuge ist das Muster aber tabu. Zwar legten das Verkehrsunternehmen wie auch der Designer vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht Berufung ein. Doch sicherheitshalber begannen die BVG-Marketingleute damit, eine neue Gestaltung zu entwickeln.
Hier kommt Susann Oecknick, Absolventin der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale), ins Spiel. Die Designerin arbeitet in Christine Wolburgs Abteilung und entwickelte das neue Muster mit der Agentur Jung von Matt/Saga. Die Farbtöne, in denen die wimmelnden Figuren gehalten sind, kommen nicht so knallig daher wie das Sonnengelb der Fahrzeuge oder wie die Farben der Signets, mit denen die BVG ihre Verkehrsmittel kennzeichnet. Doch sie erinnern daran, sagte Oecknick am Dienstag.
„Das Hellblau steht zum Beispiel für die Fähre, das rostige Rot für die Straßenbahn“, erklärte sie. Ein sekundäres BVG-Gelb gibt es auch, dazu Beige und Schwarz. Das neue Design wirkt insgesamt heller als das „Urban Jungle“-Muster. Und anders als das Nachtlinienmuster, das mit viel Schwarz und Grau heute die meisten Sitzbezüge prägt, kommt es nicht von der Stange. „Es ist eine Weltpremiere“, so Christine Wolburg.
Allerdings wird es noch Jahre dauern, bis das „Muster der Vielfalt“ bei der BVG das Bild bestimmt. „Wir reißen jetzt keine Sitze heraus“, sagte Bus-Chef Torsten Mareck. Die neuen Sitzbezüge werden erst dann eingesetzt, wenn Instandsetzungen oder planmäßige Hauptuntersuchungen anstehen. Bereits georderte Neufahrzeuge bekämen noch das Nachtlinienmuster. Erst für künftige Bestellungen, die ab Mitte 2023 geliefert werden, wird das Wimmelmenschen-Design angefordert – Plüschstoff für Busse, Kunstleder für Bahnen. 2030 sollen dann alle BVG-Fahrzeuge damit ausgestattet sein, so Mareck.
Dass die ersten Doppeldeckerbusse, die der britische Hersteller Alexander Dennis der BVG lieferte, den Anfang machen, hat einen speziellen Grund. „Die Sitze waren noch mit ,Urban Jungle‘ bezogen“, erklärte Mareck. Bus 3550, der intern den Namen „Alexandra“ erhielt, ist ab sofort als erstes Fahrzeug der BVG mit dem neuen Muster unterwegs. In einigen Wochen folgt Bus 3551 („Dennis“), der ebenfalls auf dem Wilmersdorfer Betriebshof Cicerostraße stationiert ist und Strecken im Westen Berlins befährt.
Gut möglich, dass das neue Muster ebenfalls auf Tassen, Kleidungsstücken und anderen Fan-Produkten prangen wird. „Im Herbst werden wir neue Artikel vorstellen“, sagte Wolburg.
Wie man sitzt, so reist man. Und in Berlin sind tagtäglich viele Menschen mit Bahnen und Bussen unterwegs. Es ist also kein Wunder, dass die Gestaltung von Sitzen im Nahverkehr in dieser Stadt ein wichtiges Thema ist. Als die S-Bahn ihre letzten Züge mit Holzsitzen ausmusterte, weinten viele Fahrgäste den ehrwürdigen „Stadtbahnern“ mehr als eine Träne nach. Als die BVG U-Bahnen mit Hartschalensitzen aus Kunststoff ausstattete, war in der interessierten Öffentlichkeit lautes Grummeln zu vernehmen.
Früher waren Sitze in BVG-Bussen mit Kunstleder bezogen. „Grün und später rot“, berichtete Christian Neuhaus von der Arbeitsgemeinschaft Traditionsbus Berlin. Bis 1980 beherrschte diese Gestaltung das Bild. Allerdings kann sich der eine oder andere Berliner noch daran erinnern, wie unangenehm es bei Hitze war, auf dem schweißtreibendem Material zu sitzen.
„Bei den Eindeckern gab es zwei Sonderfahrzeuge des Baujahres 1973, die wegen ihres ausschließlichen Einsatzes für Mietverkehr ‚beplüscht‘ waren“, so der Busexperte. Etwas später bekamen die Sitze eines BVG-Doppeldeckers einen Kunstlederbezug, in dessen Sitz- und Rückenflächen mittig Stoff eingearbeitet war. Doch nach einigen Jahren wurde diese Bestuhlung gegen Standardpolster getauscht, erklärte Neuhaus. „Offenbar war die Herstellung zu aufwändig, und damals waren ja zerschlitzte Sitze üblich.“
Ab 1980 wurden testweise 25 der damals 70 neuen Doppeldecker werkseitig mit roten Stoffpolstern versehen, erinnert er sich. Ab dem Folgejahr waren dann die roten Plüschsitzbezüge in Doppeldeckern und Eindeckern üblich. Aber auch diese Gestaltung hatte einen Ewigkeitswert, Mitte der 1990er-Jahre verschwand sie wieder.
Nun wird es also bunt. O-Ton Christine Wolburg: „Das Muster ist ein Zeichen unserer Liebe an all die zwei Millionen Menschen, die täglich mit uns fahren, weil sie genauso einzigartig und vielfältig sind, wie die Silhouetten unseres neuen Musters.“