Früher trugen ihn Hepburn, Beckett oder Sartre. Nun ist der Rollkragenpullover zum Markenzeichen von Politikern wie Scholz und Macron in der Krisenzeit geworden.
Kleider machen Leute. Und Kleider stehen für Zeiten. Unsere Zeit ist die des Rollkragenpullis. Für das politische Establishment ist er die passende Antwort auf die Klima- und Energiekrise unserer Tage. So tritt Kanzler Olaf Scholz im hochgeschlossen-distanzierten schwarzen Rollkragenpullover auf Flugreisen vor die Presse. Finanzminister Christian Lindner ist mit dem gleichen Oberteil in TV-Sendungen zu sehen. Sogar Wolfgang Schäuble (CDU) wurde darin gesichtet. Claudia Roth, Kulturstaatsministerin, konterkariert das Ganze mit ihrem roten Pulli, passt aber dennoch ins Bild. Denn dieses Kleidungsstück kann jeder und jede tragen. Für Männer gilt dabei: mal mit, mal ohne Sakko.
Der Pullover als Erkennungszeichen des stilsicheren Auftritts, bei Scholz ging das zunächst nicht gut aus. Als er zum ersten Mal im Flugzeug vor die versammelte Presse trat, trug er einen weit geschnittenen Pullover, der eine Nummer zu groß für ihn erschien. Unter medialem Gelächter gab es eine vernichtende Stilkritik. Scholz erkannte, dass es Zeit für einen Wechsel war. Fortan trug er den Rollkragenpulli, da gab es nichts zu mäkeln.
Bei diesem Kleidungsstück siedelte sich der Homo politicus zwischen Machtstaat und Bürgernähe an, mit einem intellektuellen Touch. Man gibt sich modern, wie die CEOs der großen Tech-Konzerne Amazon, Facebook, Google oder Apple. Schließlich trug Apple-Gründer Steve Jobs den schwarzen Rollkragenpulli mit Levi’s Jeans. Das hatte Stil, befand selbst die Modekritik. Sein ewig gleicher Look wurde zur Marke. Jobs trug Issey-Miyake-Pullover; es heißt, der japanische Designer (er war Jobs’ Freund) fertigte mehr als 100 Stück speziell für ihn an.
Der Steve-Jobs-Look ist der Stil der neuen großen Revolutionäre, die die Welt mit zur Schau getragener Nüchternheit verbessern und voranbringen wollen. Der Pulli, der bis zum Kinn reicht, als das Erkennungszeichen von intellektuellen Rebellen, Visionären und Selfmademen – von Modemachern wie Yves Saint Laurent, Künstlern wie Andy Warhol oder Schriftstellern wie Samuel Beckett getragen.
Steve Jobs war mit seinen umwälzenden Entdeckungen Vorbild einer Avantgarde der äußeren Schlichtheit. Die Einfachheit des Stils stand für sein Outfit und das Design seiner Produkte. Klar wie der Bauhausstil, der das Design für seine Modelle vom I-Mac bis zum I-Phone liefert.
Es gab kaum eine Zeit, in der Pullover politisch so hochgehängt wurden wie in diesem Winter. Das große Upgrade für die Kleidungsstücke aus doppelter Schurwolle oder Baumwolle erfolgte im Zuge des Widerstands gegen einen autoritären Herrscher. Er sitzt in Moskau und hat einen Angriffskrieg gegen ein europäisches Land befohlen: Wladimir Putin. Kuriosum am Rande: Auch er trägt hin und wieder den Rollkragenpulli, vielleicht aus kosmetischen Gründen, bei seinem Gegenpart Wolodymyr Selenskyj ist er Ausdruck der Willensstärke. Gegen Putin kämpft man durch das Energiesparen, weniger duschen, weniger heizen, dafür mehr Pullover tragen. Und ab und zu den Waschlappen nehmen. So hat es die Politik den Bürgern und Bürgerinnen empfohlen.
Während die Zeitenwende mit der von Scholz versprochenen Aufrüstung und vielen weiteren nötigen Modernisierungen der „Fortschrittskoalition“ warten muss, zeigt sich das neue Deutschland-Tempo eben im Überstreifen eines warmen Kleidungsteils. Der Pulli ist praktischer als das Hemd mit Krawatte, weil er in kalten Jahreszeiten warmhält. Da der Winter moderat und die Gasspeicher gut gefüllt sind, erfüllt der Rollkragenpullover den gewünschten Zweck. Die Krawatte ist ohnedies aus der Mode gekommen. Der Dreiteiler zu Willy Brandts Zeiten ist Geschichte.
Und der Pulli verkürzt die Distanz zum Wahlvolk. Die Politik gibt sich als Teil der „neuen Mittelklasse“ aus, die laut dem Soziologen Andreas Reckwitz die alte Nachkriegsmittelschicht immer mehr ablöst. Sie steht für kognitive Arbeit, Individualisierung im Sinne von Bildungsexpansion und Digitalisierung. Das Rollkragenmodell verspricht Zugehörigkeit zu der Klasse der Kreativen.
Dabei überdeckt der Versuch des Sich-Gleichmachens die großen sozialen Unterschiede. Deutschland bleibt das Land, das es schon in den 1950er Jahren in Bezug auf die soziale Ungleichheit gewesen ist. Die Eliten sind ökonomisch uneinholbar enteilt. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler schrieb im letzten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, von sozialer Mobilität könne hierzulande keine Rede sein. Es gebe eine erstaunliche Zusammenballung der Vermögen „auf der obersten Etage“. Noch habe die Disparität der Einkommens- und Vermögensungleichheiten, die verstärkt seit 1980 einsetzte, nicht zu sozialen Spannungen geführt.
Doch die wirkliche Ungleichheit wird kaschiert, anders als in früheren Jahrzehnten, als die Klassen- und Schichtenzugehörigkeit unverkennbar war. Undenkbar, dass Politiker der 1960er Jahre in der Öffentlichkeit den Rollkragenpulli getragen hätten. Das hatte einen einfachen Grund. Nach dem Zweiten Weltkrieg überrollte Deutschland die Fresswelle. Männer und Frauen saßen rundlich auf ihren Sofas und schauten TV. Das eng anliegende Teil passte nicht. Ludwig Erhard im Rollkragenpullover? Eher etwas für die hageren Künstlernaturen. Man muss sportiv sein und das körperbetonte Outfit mögen, um ihn tragen zu können.
Heute ist der Fitnesskult Markenzeichen der Erfolgshungrigen. Deshalb tragen eher schlanke Männer wie Scholz oder Lindner den Pulli, genauso wie der französische Präsident Emmanuel Macron, der leicht als Model durchgehen könnte. Macron und seinem Finanzminister Bruno Le Maire gelang das Kunststück, den Pulli zum Politikum zu machen. Sie trugen Anzug und Rollkragenpullover anstelle von Hemd und Krawatte, als sie die neue Ära der „Energienüchternheit“ eingeläutet hatten. Eine unübersehbare Verflechtung von Imagepflege und Politikgestaltung.
Le Maire sagte im France Inter Radio: „Sie werden mich nicht mehr mit einer Krawatte, sondern mit einem Rollkragenpullover sehen.“ Um die Botschaft zu unterstreichen, postete er auf Twitter ein Foto von sich hinter einem Schreibtisch in einem dunklen Rollkragenpullover und später auf Instagram ein weiteres. Er sagte zwar nicht, dass nun alle seinem Beispiel folgen sollten, aber es wurde so aufgefasst. Der Ärger war programmiert. Wirtschaftswissenschaftler Thomas Porcher sagte: „Ich erwarte von einem Wirtschaftsminister der sechst- oder siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt nicht, dass er mir sagt, ich solle einen Rollkragenpullover anziehen.“
Auch Rechtsaußen Marine Le Pen nahm die Vorlage an. „Sie haben nicht genug Heizung? Sollen sie doch Kaschmir tragen“, schrieb sie auf Twitter und bezeichnete Le Maire als „Marie-Antoinette Le Maire“. Macron, der „Meister im Umgang mit Symbolen“, war zudem in einer Videoansprache in einem schwarzen Rollkragenpullover unter seinem Markenzeichen, dem blauen Anzug, zu sehen.
Die Geschichte des Rollkragenpullis reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Britische Hockeyspieler sollen ihn getragen haben, lange bevor der Erste Weltkrieg begann. Auch Fußballer haben ihn übergezogen, selbst beim elitären Golfsport setzte man auf den Rolli. Später sah man ihn an Seemännern. Oder an Fischern, die dem eisigen Wind an der schottischen Küste mit doppelt gestrickter Wolle begegneten. Schließlich fand er sich auf dem Gabentisch für Kinder an Weihnachten oder zum Geburtstag. So richtig Freude wollte bei den Beschenkten selten aufkommen, denn die Pullover waren meistens zu eng und kratzten, besonders am Hals.
Erst von den 1950er Jahren an wurde der Rollkragenpulli zum Modeartikel. In den Filmen aus Hollywood laufen Frauen nun mit eng geschnittenen Pullovern herum, die bis unter das Kinn reichen. Man erinnert sich an Audrey Hepburn. „Ein süßer Fratz“ heißt der 1957 ausgestrahlte Film, in dem sie in einer Tanzszene in einem Pariser Existenzialisten-Club mit Look und Mode legendär wurde. Diane Keaton hat dem Pulli gar ein eigenes Kapitel in ihren Memoiren gewidmet.
Aber auch die Männer griffen zu: Steve McQueen trug ihn seinen Filmen, ebenso streiften die James-Bond-Darsteller Roger Moore und Daniel Craig den Pulli über. Nicht anders in der Musikwelt. Es bleiben die Erinnerungen an Fotos von den Beatles, die sich Mitte der 60er Jahre, noch mit Pilzkopf-Haarschnitt, im Rollkragenpulli ablichten ließen. Von oben blicken sie auf dem Cover ihrer LP „Rubber Soul“ in die Kamera aus Lederjacken und ihren Rollkragenpullis heraus. Wer das Kleidungsstück trug, zeigte Zugehörigkeit.
Ein Statement zu setzen, war auch das Motto der französischen Bohème. Jean-Paul Sartre und sein intellektueller Umkreis, die Existenzialisten, waren die Avantgarde des schwarzen Rollkragenpullovers. Der Existenzialismus gilt als Denk- und Lebensart, die sich mit der „individuellen, konkreten, menschlichen Existenz“ befasst. Rollkragenpulli in Schwarz wurde auch bei den französischen Strukturalisten, Postmodernisten und Dekonstruktivisten getragen, die in den 70er und 80er Jahren mit Zeichen und Bedeutungen die philosophisch Interessierten inspirierten und Sartres Einsicht, dass der Gegenstand der Philosophie alles sein kann, was man erlebt – also das Leben selbst –, vergessen ließen. Auch Albert Camus lief im Rollkragenpullover herum und stürzte mit seinen Romanen die Leserinnen und Leser in tiefschwarze Gedankenwelten. Das wirkte auch bei Michel Foucault: schwarzer Rolli mit Sakko fand seinen Platz in der Ordnung der Dinge.
Vor einigen Jahren war das Kleidungsstück völlig aus der Mode gekommen. Man sah Rollkragen kaum auf der Straße, nur Fotos aus fernen Zeiten erinnerten an ihn. Erst vor einigen Jahren wurde er von der Modebranche wiederentdeckt. Im neuen Trend mutet er weniger ernst an. Er muss nicht schwarz oder grau, er darf sogar bunt sein.
Galt der Rollkragenpullover lange Zeit als Symbol der Kunst- und Kreativszene, nützt er in diesem Winter auch denen, die lieber weniger denken.