Als Ryan Gosling seinen neuen Film «The Gray Man» in Berlin vorstellte, wurde sein Outfit mal wieder mehr diskutiert als seine Schauspielkunst. Für das Ensemble aus rotem Sakko, schwarzer Hose und weissem Hemd lieferte die Netzgemeinde einige «Who wore it better?»-Vorschläge: etwa Michael Jackson im Musikvideo zu «Thriller» oder die weltberühmten Wachsoldaten am Buckingham Palace. Bei allem Humor: Das Spannendste an Goslings Look wurde übersehen. Der 41-jährige Hollywoodstar trug eine Krawatte – und die trägt man doch eigentlich gar nicht mehr, oder?
Geht es nach der Mode, lautet die Antwort: jetzt wieder! Goslings Outfit stammt aus der neuen Kollektion von Gucci. Für den Herbst empfiehlt das italienische Modehaus diverse Krawatten aus Leder oder Schmucksteinen. In der aktuellen Kampagne von Celine sind extrem schmale Modelle zu sehen. Etwas klassischer geht es das Newcomer-Label Botter mit quergestreiften Entwürfen an. Ins Bild der modernen Herrengarderobe will das alles auf den ersten Blick trotzdem nicht passen.
Seit den nuller Jahren sind die Absatzzahlen von Anzügen und Krawatten nun schon rückläufig, weil die Dresscodes für den gepflegten Mann im Büro immer weiter aufgeweicht sind. Die Gründe dafür sind so einfach wie logisch: Zuerst hat die «Fly in, fly out»-Arbeitswelt mehr knitterfreien Komfort verlangt, dann wurde eine neue Generation von sportlichen CEO in Rollkragenpullovern (Steve Jobs) und Hoodies (Mark Zuckerberg) zum Stilvorbild.
Wenn heute überhaupt noch jemand einen Anzug trägt, dann meist ohne Krawatte. Sogar in der Politik ist das so: Im Mai schaffte Japans Regierung die Krawattenpflicht für ihre Angestellten ab. Im Juli machte ein Foto vom G-7-Gipfel die Runde, auf dem kein Staatsmann eine Krawatte, sondern sein weisses Hemd mindestens einen Knopf geöffnet trug.
Mag sein, dass auch die Corona-Krise ihren Teil dazu beigetragen hat. Wer in Lockdowns und Loungewear gelernt hat, dass die Geschäfte ganz bequem aus dem eigenen Wohnzimmer zu führen sind, will sich die Bequemlichkeit jetzt bei der Rückkehr ins normale Leben eben, so gut es geht, erhalten. Lockdowns und Loungewear haben bei Menschen aber auch eine Sehnsucht nach neu gewonnener Freiheit und Eleganz heraufbeschworen.
Historisch ist hinreichend belegt, wie Pandemien das Kleidungsverhalten beeinflussen. Die Faustregel besagt: Auf Zeiten der Entbehrung folgen expressiv-festive Moden. Nach der Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts etwa wurden die Kleider enger, Ausschnitte tiefer und der Schmuck pompöser. Im Jahr 2022 sieht man auf Laufstegen und in Geschäften jede Menge Glitzer und Pailletten, hohe Schuhe, aufwendiges Tailoring und maskuline Checks. Auch die Krawatte muss als Teil der neuen «Dress up»-Bewegung gesehen werden.
Die Designer haben sie nicht zu schnöden Office-Zweiteilern in Dunkelblau oder Grau kombiniert, sondern immer neu. Bei Botter etwa sitzen die Krawatten unter Jeans- oder Zip-Jacken. Bei Celine ergänzen sie weite Anzüge aus Leder oder mit schimmernden Lurex-Nadelstreifen. Bei Gucci schmücken sie Capes, Netz-Tanktops oder Sportanzüge, die in Zusammenarbeit mit Adidas entstanden sind. Alles Looks, die man sich gut auf Cocktails, Dinners, Partys oder sonst welchen Events vorstellen kann. Kommt jetzt also wirklich das kleine Comeback der Krawatte? Der Handel spürt es längst.
«Anlassbezogen» nennt Sam Archibald, General Business Manager der Männersparte von der Kaufhauskette Macy's, die Mehrheit aller Krawattenkäufe, die in seinen Häusern momentan getätigt werden. «Helle Farben und Prints laufen definitiv gut, florale Muster auch», sagt er. Die klassische Banker-Krawatte, wie man sie kennt, sieht er dagegen kaum noch. Insgesamt stehe das Krawatten-Business im Jahr 2022 bei Macy's gesünder da als erwartet.
Bei Vestiaire Collective laufen die Geschäfte richtig gut. Der Onlinehändler für Secondhand-Luxusmode hat in der ersten Jahreshälfte 20 Prozent mehr Krawatten verkauft als 2021. Zu den Topsellern gehören Modelle von Hermès und Gucci. Aus Italien kommen die meisten Bestellungen, dreimal so viel wie aus Frankreich, das den zweiten Platz im Ländervergleich belegt.
In einer Zeit, in der niemand mehr eine Krawatte tragen muss, liegt genau der Moment, in dem man sie als Botschafter für Lebensart und Stil neu definieren könnte. Die wichtigsten Modelle der Saison sind deshalb auch gar nicht für Männer gemacht, sondern stammen aus der Frauenkollektion von Louis Vuitton und sind so üppig mit Blumen dekoriert wie ein Gemälde von Jan Davidsz. de Heem. Kein überholtes modisches Beiwerk, vielmehr modischer Blickfang.
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