Welcher ist der grösste Modetrend der letzten Jahre, der es über die Laufstege und Hochglanzmagazine hinaus, tatsächlich auf die Strassen geschafft hat und beim Massenpublikum angekommen ist? Der «Ugly Chic», also jene Tendenz, als «hässlich» konnotierte Teile für cool zu erklären. Dank dieser Praxis zählen heute etwa Dad-Sneakers, Bequemsandalen, Bundfaltenhose, weisse Socken und Bermudas zum fixen Inventar der Garderobe. Und nun gesellt sich ein weiteres Stück dazu: der Pullunder.
Er ist als Standardmontur von Golfern bekannt, kommt aber auch bei weiteren «elitären» Sportarten, wie Tennis und Cricket zum Einsatz. Denn im Sport liegen die Wurzeln dieses sonderlichen, aber durchaus praktischen Kleidungsstücks: Es gewährt beim Wettkampf ausreichend Armfreiheit und wird als bequemer «Oberkörperwärmer» übergezogen. Im Englischen ist die «knitted vest» oder «sweater vest» drum auch als «slipover» bekannt.
Im italienischen «Gilet» genannt, ist das Strickteil nicht zu verwechseln mit der geknöpften Weste aus Webstoff, auch nicht mit dem «Débardeur», unter dem man im Französischen das schnittverwandte Achselshirt versteht. Über die Ursprünge des deutschen Begriffs «Pullunder» hingegen lässt sich nur mutmassen, vermutlich ist er eine Komposition der englischen Begriffe für «ziehen» und «drunter» – «pull» und «under» –, wird doch das Stück neben dem Spielfeld gerne auch mal unter einem Jackett getragen.
Global im Unisono ist jedoch das spiessige Opa-Flair, mit dem der Pullunder in Verbindung gebracht wird, und wohl deshalb hat ihn die Modewelt lange Zeit eher mit Skepsis behandelt. Doch das hat sich nun gedreht, und wie so oft, wenn es um Stil-«Flirts» mit dem schlechten Geschmack geht, hatte Designerin Miuccia Prada schon früh die Finger im Spiel: In ihren Herrenkollektionen für Prada tauchte die «knitted vest» seit Jahren immer wieder auf, für Herbst 2020 als essenzielles Stück, mit dem die zwei ersten Looks das Defilee eröffneten.
Es hat noch eine Weile gedauert, bis Frau Pradas Empfehlung Fuss fasste, aber schon wenige Saisons später, entdeckten auch andere Modemarken den Pullunder. Vergangenen Frühling pries die «New York Times» das Stück als ideales für Übergangszeiten an – nicht nur saisonale, zwischen Winter und Sommer, sondern auch gesellschaftliche – zwischen Lockdown und Freiheit: Pullunder lassen sich vielseitig im Lagenlook kombinieren und bieten sowohl kuscheligen Wohlfühlkomfort wie auch einen «anständigen» Auftritt.
Zwar schwingen, wenn man den Pullunder vor Augen hat, immer noch Assoziationen mit dem Look von Musterschülern und wohlerzogenen Söhnchen aus gutem Hause mit, doch genau dieses Adrette wird mit den «Vibes» des «Ugly-Chic» neu aufgeladen: Dank frischerem Styling gilt der Pullunder auf einmal nicht mehr als verschroben, sondern wird zum angesagten Fashion-Teil.
Weitere modische Schützenhilfe erhielt der Pullunder jüngst auch von Prominenten, etwa den Musikern Harry Styles und Tyler, the Creator. Ersterer trägt ihn bunt gemustert und «geschrumpft» zu Hemd und weiten Hosen im Seventies-Stil von Gucci, während der Rapper ein weisses T-Shirt, weisse Socken, Bermudas und schräge Hüte dazu kombiniert. Auf eine coole Art persifliert er damit klischierte Touristen- und Tennislehrer-Looks und erhält von der Zeitschrift «GQ» prompt den Übernamen «sweater-vest king of Hollywood».
Doch der Pullunder als Trendstück wird nicht nur auf Laufstegen von VIPs getragen: Pünktlich zur Festsaison ist er auch fürs breite Publikum zu bezahlbaren Preisen erhältlich. Marken wie COS, Marc O’Polo oder Gant führen ihre Versionen in den aktuellen Kollektionen. Ein guter Zeitpunkt also, den Klassiker zu erstehen. Bei der Familienzusammenkunft weckt er heimelige Gefühle, wirkt aber viel aparter als die gängigen Weihnachtspullis mit lustigen Motiven.
Und wie wird der Pullunder heute getragen? Mit einer neuen Interpretation des klassischen Land-Looks britischer Aristokraten macht man wenig falsch: In gemusterter Ausführung zu Hemd, Hose und Krawatte – heraufgerollte Hemdsärmel helfen, den Look aufzulockern.
Lässiger ist der besagte Look von Tyler, the Creator: zu einem weissen T-Shirt kombiniert – das kann mit einem Leopardenmuster in Knallfarben ebenso gut aussehen wie mit einem klassisch-weissen Tennis-Pullunder aus Zopfstrick. Es ist auch die Style-Kombi, die Brad Pitt 1996 mit einem Modell in pastellenen Blockstreifen und Freundin Gwyneth Paltrow am Arm trug. Nicht dass der Schauspieler je eine wirkliche Stilikone gewesen wäre – aber die neunziger Jahre sind als Modeepoche derzeit hoch im Kurs.
Interessant und auf eine moderne Weise «sehr angezogen» wirkt die Kombination eines unifarbenen Pullunders mit kontrastierendem Rollkragen- oder Langarmpulli. Mutige tragen das Stricktop für den Ausgang auf nackter Haut oder mit ärmellosen Shirts: Sexy oder gar rebellisch-subversiv wirkt der Look mit nackten Armen.
Man kann also gespannt sein, ob und auf welche Art, der Pullunder in den Strassen zu sehen sein wird. Potenzial dazu hat er durchaus, ist er doch ein Stil-Hybrid, der sowohl cool wie auch adrett wirkt. Und im Gegensatz zu manch anderen Trendstücken, die Teil des «Ugly Chic» sind, ist der Pullunder nachhaltig. Er verleiht dem Träger auch im fortgeschrittenen Alter, und nach weiteren Trendwellen, einiges mehr an Würde als der Hoodie und die Dad-Sneakers zusammen.
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