Zu einem erfolgreichen Mann gehört ein guter Anzug. Dieser Lehrsatz hat seine Gültigkeit verloren, seitdem sogar Topmanager in Jeans auftreten. Der schrumpfende Markt macht Firmen wie Ermenegildo Zegna erfinderisch.
Logisch. Wenn eine der umsatzstärksten und grössten Männermarken für Formal Wear ein Megageschäft mitten auf der Londoner New Bond Street eröffnet, dann kann der Dresscode für diesen Abend nur «Elegant Attire» lauten.
20 Monate lang hat Ermenegildo Zegna ein komplettes Haus renovieren lassen. Für die Gestaltung von 500 Quadratmetern auf drei Etagen wurde kein Geringerer als Peter Marino engagiert, der Luxusladeneinrichter in Lederkluft. Er hat auf Hochglanz polierte Eichenholztische mit cappuccinofarbenen Lobbysesseln kombiniert und mit jeder Menge warmem Licht übergossen. Hier soll jetzt also der vermögende Geschäftsmann von heute seine Anzüge, Kaschmirpullover und Tasselloafer kaufen. Nur: Die Gäste sind nicht im edlen Zwirn gekommen, sondern tragen lieber, was angesagt ist: Blousons überm weissen Hemd und übergrosse Lammfelljacken zu kaputten Jeans. Was ist da los?
Dass der Anzug nicht mehr das Mass aller Dinge in der Herrenmode ist, weiss man seit längerem. Seit den Neunzigerjahren wird er sichtlich weniger getragen, aber seit Anfang der Nullerjahre spricht die Branche von einer veritablen Krise. Der Absatz ist vielerorts rückläufig, was selbst die etablierten Herrenausstatter zum Experimentieren zwingt.
Zum Beispiel mit Sportswear, der bislang lukrativsten Alternative. Eine eigene Linie gab es bei Ermenegildo Zegna von 1998 bis 2014. Oder mit einer eigenen Frauenkollektion; bei Boss gibt es sie seit 2000. Oder aber, wie zuletzt, mit immer neuen Designern. Im Februar 2016 fielen sie plötzlich wie die Dominosteine: erst Brendan Mullane bei Brioni, der den Anzug gern im Kontext von Trekking-Mode sah. Noch am selben Tag meldete Berluti den Abgang von Alessandro Sartori, der sich eher auf die Kombinierbarkeit einzelner Anzugteile konzentrierte. Nur zwei Tage später nahm Stefano Pilati bei Ermenegildo Zegna seinen Hut. Sein exaltierter Stil wurde von Kritikern gefeiert, war am Ende aber wohl nichts für den Kunden draussen. Brioni holte sich gleich danach den Ex-Einkäufer Justin O’Shea, der die Marke radikal verjüngen wollte, indem er die harten Jungs von Metallica als Werbegesichter verpflichtete. Alles vergeblich. O’Shea wurde auch schon wieder gefeuert.
Dass sich die Krise gerade zuspitzt, dafür kann auch das neue Kleidungsverhalten des Daimler-Chefs als Beweis angeführt werden. Dieter Zetsche, einst passionierter Anzugträger, tauscht seinen Zweiteiler neuerdings gegen Turnschuhe, Jeans und Sakko ein. Viel härter dürfte die Herrenausstatter aber die Entscheidung von JP Morgan Chase & Co. treffen: Die grösste Bank der USA hat im Juni dem Grossteil ihrer 235 000 Angestellten die Anzugpflicht erlassen. Weitere Konzerne werden gewiss bald folgen. Anzug und Krawatte sind in dieser «Fly-in, fly-out»-Arbeitswelt einfach das Unbequemste, was man tragen kann.
Gildo Zegna sieht das eher gelassen. «Natürlich reisen wir heute viel und wollen uns deshalb bequemer kleiden. Passé wird der Anzug aber nie sein», sagt er. Der Unternehmer selbst trägt ein hellgraues Modell, dazu eine gestrickte Krawatte. «Casual» nennt er das. Ganz schön mutig, würde der Durchschnittsmann dazu sagen. Seit 1997 leitet Gildo Zegna die Geschäfte des Familienunternehmens, in dritter Generation. Es gab mal bessere und schlechtere Jahre, aber so richtig hart hat es ihn bislang nicht getroffen, der Umsatz lag 2015 immer noch bei 1,3 Milliarden Euro. Was einerseits daran liegt, dass Zegna auch Stoffe für Luxusmarken wie Tom Ford und Versace fertigt. Andererseits bietet die Firma schon länger alles rund um den Anzug an: Taschen, Cardigans, Übermäntel, Sneakers und Jeans. Damit auch die Zetsches dieser Welt fündig werden können.
Das Kerngeschäft ist und bleibt aber der Anzug. Als weiteren Grund für das sinkende Interesse an ihm sieht Zegna nicht nur das ständige Unterwegssein der Menschen. Er sagt: «Wir halten uns heute kaum noch an Kleiderordnungen. Das ist gut und schlecht zugleich.» Womit wir bei der Frage wären, wie es so weit kommen konnte.
Noch in den Vierziger- und Fünfzigerjahren war es für Männer ja undenkbar, in etwas anderem als einem wollenen Tagesanzug vor die Tür zu treten. Dann aber kamen ein paar Jungs in den USA auf die unerhörte Idee, mit Rock ’n’ Roll, Bluejeans und Biker-Jacken gegen das Establishment zu rebellieren.
Es folgten so gut wie dekadenweise neue Jugendkulturen: die Hippies in Schlaghosen und kurzen T-Shirts, die Punks in zerschlissenen Jeans, die Gothics in schwarzem Leder, die Hip-Hopper in Hoodies. Was sie trugen, wurde cool, landete irgendwann auf dem Laufsteg und fällt heute gar nicht mehr auf. Dem Anzug hat das den Besitzanspruch auf die Männermode streitig gemacht. Daran konnten am Ende auch die Yuppies der Achtziger nichts ändern. Sie erhoben den Zweiteiler zuletzt noch mal zum Symbol für wirtschaftlichen Erfolg (siehe Michael Douglas in «Wall Street»). Es war die Zeit, als Giorgio Armani das Innenfutter aus seinen Sakkos trennte und sich Anzüge erstmals sensibel um die Körper ihrer Träger legten.
Die Chefetagen blieben von all dem vorerst unberührt. Bis das Internet zum Jahrtausendwechsel boomte. Nerds, die in Garagen Start-ups gründeten, wurden plötzlich Milliardäre und trugen dabei Rollkragen- und Kapuzenpullover: Steve Jobs bei Apple, Mark Zuckerberg bei Facebook und Kevin Systrom bei Instagram zum Beispiel. Seit solche Leute weit vorne auf den Reichen-Listen auftauchen, wird alles immer digitaler, also schneller und bequemer.
Deshalb soll nicht nur der Anzugkauf, sondern neuerdings auch der Massanzugkauf online getätigt werden. Dienste wie Taylorjack oder Taylor4less bieten ihn zu Dumpingpreisen um die 200 Franken an. Der Kunde muss sich selbst vermessen und soll nach ein paar Wochen daheim vorm Spiegel über den perfekten Sitz staunen.
Wer’s glaubt. In Wahrheit ist der Anzug eines der letzten Kleidungsstücke, für das man immer noch ins Geschäft gehen muss. Ja, selbst für den von der Stange. Weil zwei bis drei Teile, Sakko, Hose und wahlweise Weste, auf den Körper und zueinander passen müssen. Das kostet Geld. Bei Zegna gibt es zwar einen Onlineshop, aber nur für die Konfektionsware, «da kommt man heute natürlich nicht drum rum», sagt der Chef.
Dass die Zukunft des Anzugs nur mit einem Erlebnis einhergehen kann, bei dem die helfende Schneiderhand nicht fehlen darf, hat das Unternehmen früh erkannt. Seit 1972 gibt es die Masskonfektion «Su Misura». Der Kunde kann sich dabei den Stoff und das Modell selbst aussuchen. Die Einzelteile des Anzugs sind nach Standardgrössen vorgefertigt und werden auf den Kunden angepasst. Das ist teurer als Stangenware, aber nicht ganz so teuer wie ein kompletter Massanzug. Bei 2400 Euro geht es los (reine Konfektion bei 1700 Euro). 20 bis 30 Prozent mehr muss ausgeben, wer einen Stoff will, den es nur einmal auf der Welt gibt. Seit 2012 bietet das Unternehmen auch Stoffe an, von denen immer nur ein paar Meter gewebt worden sind.
«Wir setzen verstärkt auf One-to-one-Termine», sagt Zegna. Er sieht nicht nur in der Personalisierung die Zukunft, sondern auch in Alessandro Sartori. Den Ex-Chefdesigner von Berluti hat er abgeworben, sein Debüt wird er jetzt im Januar auf der Mailänder Männermodewoche zeigen. Für den Londoner Store hat er schon mal exklusiv Massschuhe entworfen, um sich warmzulaufen.
Sartori ist einer, der einen Anzug unbeschwert aussehen lassen kann, er lockert die Silhouette, macht die Stoffe weicher, setzt Farbe ein. Dahinter stecken die Idee einer angepassten Bequemlichkeit und die Vorstellung, dass man Sakko und Hose getrennt voneinander tragen kann.
Wo man hinschaut, hängen überall nur strenge Zweiteiler in Dunkelblau und Schwarz. Man trägt sie, seit Jahren, mit zwei Knöpfen und mit Hemd. Schade, denn ein weisses T-Shirt oder ein Rollkragenpulli lockern den Sakkoträger schon auf. In einer Zeit, in der niemand mehr einen Anzug tragen muss, könnte man ihn neu definieren. Gerade weil er nicht vorwiegend fürs Büro gemacht ist, könnte er wieder zum Botschafter für Lebensart werden. In Ausstellung oder Oper. Ab und zu tut ein bisschen Disziplin ja gut. Und Männer, vor allem ab einem gewissen Alter, brauchen etwas äusseren Halt zur inneren Sicherheit, mit anderen Worten: einen Anzug, der passt.
(© «Süddeutsche Zeitung»)